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Ukraine-krieg: 71 Prozent Der Russen Unterstützen Die Invasion, Tendenz Steigend

Ukraine-krieg: 71 Prozent Der Russen Unterstützen Die Invasion, Tendenz Steigend

Am 10. März gingen die vom türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu organisierten Gespräche zwischen dem Außenminister Russlands Sergej Lawrow und dem Außenminister der Ukraine Dmytro Kuleba erwartungsgemäß ergebnislos zu Ende. Selbst auf eine vorübergehende Feuerpause konnten sich die Seiten nicht einigen. In seinem Pressestatement hob Kuleba hervor, dass die Ukraine zu einer diplomatischen Lösung bereit sei, jedoch nicht kapitulieren werde. Die russische Seite betonte, dass aus Sicht Moskaus das russisch-ukrainische Verhandlungsformat in Belarus, dessen Fortsetzung für kommende Woche geplant sei, ohnehin den ungleich wichtigeren Gesprächskanal darstelle.

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Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Keine ehrliche Verhandlungslösung in Sicht

Nachdem Russland nach wie vor von einem militärischen Sieg ausgeht, vor dem verstärkten Einsatz schwerer Waffen nicht zurückschreckt und auch keine zivilen Opfer scheut, ist die Verhandlungsbereitschaft Moskaus gering. Wie Putin sowie Kremlsprecher Dmitrij Peskov in den vergangenen Tagen mehrfach bestätigten, hält Moskau offiziell an vier Forderungen fest. Diese sind: Entmilitarisierung, Entnazifizierung, politische und militärische Neutralität der Ukraine sowie Anerkennung der Krim als Teil Russlands und der Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (im Rahmen der gesamten Regionen Donezk und Luhansk) als unabhängig.

Die meisten Fragen wirft der Punkt „Entnazifizierung“ auf. Tatsächlich finden sich in der Ukraine in der Politik und im Militär mehrere rechtsextreme Gruppierungen, die aber mittlerweile politisch keine Rolle spielen. Während im Jahr 2012 die rechtsextreme Partei Swoboda bei den Parlamentswahlen noch über 10 Prozent erreichte, eine wichtige Rolle beim Euro-Maidan spielte und in der Übergangsregierung mit mehreren Mitgliedern vertreten war, verlor sie seither deutlich an Einfluss und ist seit 2014 nicht mehr im Parlament vertreten.

Somit dürfte Moskau unter dem Punkt Entnazifizierung vor allem eine gegenüber dem Kreml loyale Regierung verstehen. Letztere würde auch alle weiteren russischen Forderungen erfüllen. So soll Russland laut den Informationen des Investigativmagazins „The Insider“ Selenskyj angeboten haben, Pro-forma-Präsident zu bleiben und dafür einen prorussischen Politiker vom Schlage eines Jurij Boiko (stellvertretender Premierminister in der Regierung Mykola Asarows bis Februar 2014) an die Regierungsspitze in der Ukraine setzen. Interessanterweise dürfte Moskau ernsthaft über die politische Rückkehr des ehemaligen Präsidenten der Ukraine Wiktor Janukowitsch nachdenken. So rief Janukowitsch am 8. März Selenskyj öffentlich dazu auf, das Blutvergießen in der Ukraine sofort zu beenden.

Die möglichen russischen Forderungen an die Ukraine

Freilich dürfte Russland wohl kaum bei den vier genannten Forderungen bleiben. Das ukrainische Online-Medium „Dzerkalo Tyzhnia“ (eine der einflussreichsten analytischen Wochenzeitungen der Ukraine, in Druck 1994 bis 2019, danach nur online) berichtet am 10. März unter Berufung auf diplomatische Kreise der Ukraine, dass Russland der ukrainischen Seite bei den Verhandlungen in Belarus sechs Forderungen, die zwingend in die Verfassung aufzunehmen seien, unterbreitete. Diese lauten:

1.     Verzicht auf den Nato-Beitritt und Neutralität mit Russland als einer der Garantenmächte

2.     Russisch als zweite Staatssprache

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3.     Anerkennung der Krim als Teil Russlands

4.     Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken von Donezk und Luhansk (im Rahmen der gesamten Regionen Donezk und Luhansk)

5.     Entnazifizierung: Verbot von ultranationalistischen, nationalsozialistischen und neonazistischen Parteien und öffentlichen Organisationen

6.     Entmilitarisierung: Ein vollständiger Verzicht auf Offensivwaffen (Deutungshoheit darüber liegt bei Russland)

Die Authentizität der von „Dzerkalo Tyzhnia“ genannten Punkte lässt sich kaum überprüfen. Allerdings erscheinen diese Forderungen in Anbetracht offizieller russischer Forderungen als plausibel. Akzeptieren kann Kiew diese Forderungen freilich nicht. Doch Moskau ist offensichtlich nicht gewillt, Selenskyj entgegenzukommen. So betonte Wladimir Putin im erneuten Gespräch mit dem französischen Staatspräsidenten Emanuel Macron nachdrücklich, dass Moskau alle Forderungen entweder auf militärischem oder diplomatischem Wege erreichen werde. Solcherart bedeutet für die Ukraine auch eine diplomatische Lösung nichts anderes als eine bedingungslose Kapitulation. Macron rief die EU gar dazu auf, sich auf alle Szenarien einzustellen.

Die Entscheidung über das weitere Vorgehen sowie die adäquate Reaktion auf die Forderungen Russlands wird Kiew bereits in der kommenden Woche treffen müssen. Mit jedem weiteren Tag wächst die Zahl der zivilen Opfer und die Wahrscheinlichkeit für noch größere Zerstörungen und einen noch intensiveren und rücksichtsloseren Einsatz von schweren Waffen. Bislang weigerte sich Kiew, über einen Gebietsverzicht zu verhandeln, allerdings hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im Interview mit dem US-Sender ABC am 8. März erstmals eine grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft signalisiert.

Russlands fehlende Sehnsucht nach einem Frieden

Nach Angaben des russischen staatlichen Meinungsumfrageinstitutes WCIOM vom 3. März unterstützen 71 Prozent der Befragten die russische „Spezialoperation“ in der Ukraine; im Vergleich zum 25. Februar wäre das eine Steigerung um sechs Prozent, gleichzeitig ging auch die Zahl derjenigen zurück, die der „Spezialoperation“ gegenüber eine ablehnende Haltung zeigten: von 25 Prozent am 25. Februar auf 21 Prozent am 3. März. Auch wenn die Datenerhebung von WCIOM einige Fragen aufwirft, scheint dennoch die Grundstimmung der Mehrheit der russischen Bevölkerung richtig wiedergegeben  zu sein.

Insgesamt wird die „Spezialoperation“ als ein notwendiges Übel betrachtet und die Schuld dafür ganz klar bei der Ukraine und dem Westen gesehen. Die Antikriegsproteste beschränken sich hauptsächlich auf Städte, wo primär die gebildete Mittelschicht und damit eine kleine Minderheit der Bevölkerung protestiert. Bildlich gesprochen: Nur eine Minderheit ist gegen den Krieg; von dieser Minderheit ist wiederum eine noch kleinere Minderheit der Überzeugung, dass die Schuld bei Putin liegt; und davon sind nur wenige bereit, tatsächlich auf die Straße zu gehen.

Einer der Gründe für die Stimmung liegt in der allgegenwärtigen Staatspropaganda über den Ukrainekonflikt seit 2014. Der russischen Führung gelingt es mit einem entwaffnenden Selbstverständnis, das selbst die verruchtesten Orwell’schen Protagonisten vor Scham erröten ließe, die Tatsachen dieses Krieges gegenüber der eigenen Bevölkerung umzudeuten und Russland als Opfer darzustellen.

Diese Staatspropaganda kann auch deshalb so gut funktionieren, weil sie auf den fruchtbaren Boden tradierter russischer Geschichtsschreibung (der vorrevolutionären, kommunistischen, postsowjetischen) über die ukrainische Nation fällt, welche die Eigenstaatlichkeit der Ukraine grundsätzlich äußerst kritisch sieht.

Auch sollte die aktuelle Strafrechtsverschärfung in Russland nicht übersehen werden. Diese ist am 4. März im Eilverfahren beschlossen, bereits mit 5. März in Kraft gesetzt worden, erstreckt sich auf In- und Ausländer (somit auch Journalisten) und sieht eine rückwirkende Anwendung ab 24. Februar 2022 (Beginn des Angriffskrieges) vor. Die neuen Regelungen verbieten die Verwendung der Begriffe Krieg oder Invasion im Zusammenhang mit der „Spezialoperation“ in der Ukraine sowie jedwede Kritik am Vorgehen der russischen Streitkräfte. Auch kann nunmehr bereits der Aufruf zu einer Antikriegsdemonstration mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden.

Die begrenzten Handlungsoptionen des Westens

Angesichts des zunehmend brutaleren Vorgehens russischer Streitkräfte und der wachsenden Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung fordert Kiew die Nato vehement dazu auf, eine Flugverbotszone über der Ukraine zu errichten. Theoretisch ist eine Flugverbotszone eine wirksame, im Vergleich zu einer Bodenoperation kostengünstige und mit geringem Risiko verbundene Möglichkeit, die Zivilisten zu schützen und das Gleichgewicht des Krieges zugunsten der Ukraine zu verändern.

Eine praktische Umsetzung ist allerdings kaum vorstellbar. Eine Flugverbotszone würde de facto einen Eintritt der Nato in den Krieg bedeuten und von Russland mit Sicherheit als eine Kriegserklärung ausgelegt werden. Die Sicherheit der Nato-Streitkräfte könnte keinesfalls gewährleitstet werden, nicht zuletzt aufgrund der auf dem Territorium Russlands und der Republik Belarus stationierten Flugabwehrsysteme, welche zunächst eliminiert werden müssten. Eine für eine rechtlich belastbare Errichtung einer Flugverbotszone notwendige UNO-Sicherheitsratsresolution ist angesichts des sicheren Vetos von Seiten Russlands und Chinas nicht zu erwarten. Aus den genannte Gründen lehnt die Nato die Errichtung einer Flugverbotszone strikt ab.

Nachdem eine militärische Option von der Nato nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wird, bleiben abseits der Sanktionen die Handlungsoptionen für den Westen letztlich begrenzt. Zwar wurde in der vergangenen Woche in der EU über ein Öl- und Gasimportverbot aus Russland diskutiert, jedoch bleibt selbst ein kurzfristiges Öl- und Gasimportverbot nur schwer vorstellbar. Die EU-Kommission hat am Dienstag, dem 8. März, einen Plan mit Maßnahmen (inklusive Ausbau erneuerbarer Energien, Erschließung neuer Gaslieferquelle und Steigerung der Energieeffizienz) ausgearbeitet, um die Gasimporte aus Russland innerhalb eines Jahres um zwei Drittel zu verringern und bis 2030 ganz auf Gaslieferungen aus Russland zu verzichten.

Die Wirksamkeit und vor allem die schnelle Umsetzbarkeit dieser Maßnahmen bleibt fraglich. Auch werden nicht alle EU-Staaten diese Pläne mittragen wollen und können; so hat Ungarn bereits angekündigt, keine Sanktionen gegen Russland im Energiebereich zu unterstützen. In Wahrheit kann angesichts ausgeprägter Abhängigkeiten die Energieversorgung der EU im Augenblick nicht anders als durch Importe aus Russland gesichert werden. Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck sieht durch ein potentielles Öl- und Gasimportverbot aus Russland mit Blick auf Preisstabilität und Energiesicherheit gar den sozialen Frieden gefährdet. Angesichts der sehr hohen Gold- und Devisenreserven Russlands (im Gesamtwert von über 630 Milliarden US-Dollar) würde sich ein Öl- und Gasimportverbot auf die Kriegshandlungen nicht unmittelbar auswirken.

In Anbetracht begrenzter Handlungsmöglichkeiten sollte der Westen neben offiziellen Solidaritätsbekundungen vor allem die Versorgung der Kriegsflüchtlinge zur seiner zentralen Aufgabe machen. Auch erscheint es überaus wichtig, auf Errichtung und Einhaltung humanitärer Korridore für den Abzug der Zivilbevölkerung aus umkämpften Orten zu drängen. Was die von Kiew dringend benötigten Waffenlieferungen anbelangt, sollten diese nicht öffentlich diskutiert werden, um die Eskalationswahrscheinlichkeit eines Konfliktes zwischen dem Westen und Russland nicht unnötig zu steigern. Schließlich helfen der Ukraine konkrete Taten – und nicht selbstgerechtes Gerede.

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